V. Knigge: Geschichte als Verunsicherung

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Titel
Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Axel Doßmann im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora


Autor(en)
Knigge, Volkhard
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
630 S., zahlreiche, z.T. farbige Abb.
Preis
€ 38,00
von
Béatrice Ziegler, Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik am ZDA, PH FHNW

Axel Dossmann hat mit Blick auf die Emeritierung von Volkhard Knigge, dem langjährigen Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie Inhaber der Jenaer Professur für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit, eine umfangreiche Zusammenstellung von Referaten, Gesprächen und Texten von Volkhard Knigge veröffentlicht. Die 48 Texte sind thematischen Teilen zu- und dort chronologisch angeordnet. Dies ermöglicht, Argumentationen thematisch in ihrer Entwicklung über die Jahre hinweg zu verfolgen. Der Titel der Publikation «Geschichte als Verunsicherung» zielt dabei ins Zentrum des Denkens und Handelns von Knigge: Historisches Lernen soll verunsichern – oder anders formuliert, soll die Chance bieten, langgehegte, erlernte, verlangte, immer wieder verteidigte Sicherheiten, aufzuweichen und zur Disposition zu stellen, um ein Geschichtsbewusstsein zu ermöglichen, in dessen Kern die Würde des Menschen, ja, aller Menschen steht.

Der erste Teil befasst sich mit den theoretischen Grundlagen von Knigges Wirken. Dessen Benennung «Geschichtsaneignung, Subjekttheorie und Psychoanalyse» weist auf die einigermassen ungewöhnliche disziplinäre Kombination hin, mit der Knigge die Geschichtsdidaktik verbindet: Wohl wesentlich getrieben von seiner Frage nach dem sogenannten «trivialen Geschichtsbewusstsein» hatte er sich früh auch der Psychoanalyse zugewendet. Fragen nach individuellen Verarbeitungsprozessen, nach Umdeutungen von historischer Evidenz sowie nach der Zurückweisung (offiziell) vertretener Geschichtsdeutungen erhalten damit eine völlig neue und wichtige Dimension.

Die Texte des zweiten Teils kreisen um Knigges Konzept der «negativen Erinnerung» und die Formen des selbstkritischen Umgangs damit. In der Thematisierung der Ermordung der europäischen Juden – und im differenzierenden Vergleich von Gesellschaftsverbrechen des 20. Jahrhunderts – geht es ihm einerseits um die Kenntnisnahme spezifischer Voraussetzungen und Rahmenbedingungen «unannehmbarer Geschichte» (Kertész), die er letztlich nur mit einer willentlichen Selbstverunsicherung für bearbeitbar hält. Es gelte, aufgrund der Sorge um sich selbst Geschichte als historisch informierte Grundlage von Entstehungsmöglichkeiten und -bedingungen von Gegenmenschlichkeit zu nutzen. Auch und vor allem, um den Zustand der «Entborgtheit» und «Bodenlosigkeit» (S. 69) aushalten zu können, der nach Hannah Arendt aus der Einsicht in die absolute Sinnlosigkeit des nationalsozialistischen Mordens resultiert, und um derart solidarische, verantwortungsbewusste Existenz als einzige Möglichkeit zu erkennen und zu leben.

Knigge hat sich nie gescheut, deutliche Worte zu finden für sein Anliegen einer Förderung einer demokratischen und den Menschenrechten verpflichteten Gesellschaft mittels individueller und gesellschaftlicher Selbstverunsicherung angesichts der Befassung mit verstörender Geschichte. Mit Klarheit formuliert er dies auch in jenen Texten, die sich mit Teilaspekten dieses Ziels befassen: So etwa in seinem Beitrag zur Problematik des Umgangs mit Zeitzeugen, oder, wie im dritten Teil, zu Spuren, Artefakten und Denkmälern. Er vertritt mit Nachdruck, dass zwar der Umgang mit diesen Elementen darauf beruhen müsse, dass sie, entsprechend ihrer spezifischen Charakteristik wichtig genommen und als Überreste bzw. Zeugen von Vergangenheit wertgeschätzt werden. Gleichzeitig sei aber eine wissens- und theoriebasierte, sinnermöglichende Inszenesetzung unverzichtbar, damit von ihnen Aussagen entgegengenommen werden können, die historisches Lernen unterstützen. Dabei gehe es immer auch darum, neben dem Zeigen des Vorhandenen, Fehlendes, Leerstellen und Abwesendes erkenn- und reflektierbar zu machen.

Der vierte Teil befasst sich mit Knigges Reflexionen über die Erinnerungskultur, wie sie sich in den letzten rund zwanzig Jahren entwickelt hat. Angesichts der Normalisierung der Befassung mit dem Nationalsozialismus und der Shoa (über staatliche Förderung des Gedenkens und die Festschreibung der Thematik als Pflichtteil von Curricula von Schulen) und ihrer gleichzeitigen Historisierung (als sichtbarstes Zeichen wird jeweils das (Ver‐)Schwinden der Täter und Opfer, also der Zeitzeugen genannt) kritisiert Knigge das, was er als «Erinnerungsimperativ» bezeichnet. Er fordert, Erinnerung mit der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu ersetzen und dabei mit einem «nicht kognitivistisch verengten Begriff von Geschichtsbewusstsein» (S. 217) die komplexe Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft diskutier- und verstehbar zu machen. Die Verfügung über Wissen und die Klärung des eigenen und gesellschaftlichen Wertehorizontes erlaube erst eine sinnhafte Erkenntnis darüber, dass das gesellschaftliche Versagen in Gestalt des deutschen Nationalsozialismus überwunden sei, gleichzeitig aber eine gegenwärtige Möglichkeit ist, der entgegenzutreten in der Gegenwart unabdingbar ist (S. 218). Welche Rahmung und welche (didaktischen) Prinzipien sich aus dieser Zielrichtung für eine Pädagogik «nach Auschwitz» (S. 219) ergeben, skizziert Knigge auf äusserst bedenkenswerte Weise. Dabei bezieht er den Sachverhalt mit ein, dass in jüngster Zeit zusätzlich auch trivialisierende Thematisierungen in der Geschichtskultur die wissensbasierte und werteorientierte Korrektur erforderlich machen. Dies mit der Absicht, die Potentiale der «Erinnerung» für die kritische Auseinandersetzung mit Geschichte und damit für ein gesellschaftliches Handeln im Sinne steten Bemühens um die Geltung von Menschenwürde und Demokratie zu nutzen.

Der fünfte Teil gilt vor allem der Kunst nach dem Zivilisationsbruch bzw. dem künstlerischen Schaffen ehemaliger KZ-Häftlingen wie Imre Kertész, Jorge Semprún, Jósef Szaina u. a. Hier setzt auch die Auseinandersetzung Knigges mit dem lange gepflegten und erst in den 1990er Jahren überwundenen Selbstbild von Weimar ein. Die Stadt wollte sich lange in völliger Abgrenzung zum Konzentrationslager und in der Betonung von Unkenntnis und Schuldlosigkeit bezüglich der Vorgänge in und um Buchenwand als Kulturstadt Goethes, als Zentrum der Klassik verstanden wissen und war nicht bereit, über die schwierigen Verflechtungen zwischen Weimar und Buchenwald nachzudenken.

Die Fiktion der geteilten Welten Weimar und Buchenwald, in der die einen nichts von den anderen gewusst haben wollten, spielt auch in Texten eine Rolle, die sich mit der spezifischen Funktion von Gedenkstätten, mit museums- bzw. gedenkstättenpädagogischen Überlegungen sowie konzeptionellen Fragen befassen (Teil sechs). Eine wesentliche Grundlage spielt dabei die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Motivationen der Besuchenden. Ausserdem berichtet Knigge von den permanenten Forschungsanstrengungen der Institution, die sich der Dokumentation der Häftlinge und ihrer Schicksale, den Vorgängen in Buchenwald und Mittelbau-Dora, der Entwicklung der Örtlichkeiten nach 1945 sowie der Aufarbeitung der historischen Instrumentalisierung von KZs seit der Gründung der beiden deutschen Staaten widmen. Buchenwald hatte gemäss Knigge der DDR als Legitimation ihrer Existenz als «besseres Deutschland» gedient, indem sie sich auf die dort inhaftiert gewesenen Kommunisten fokussierte und das Gedenken an die übrigen Häftlinge aussparte. Die Dekonstruktion des staatlich verordneten Gedenkens der DDR nach der Wiedervereinigung paarte sich mit der Eröffnung der Diskussion um die ambivalente Moderne in Weimar. Dabei (insbesondere im siebten Teil) legt Knigge seine Überzeugung dar, dass nur die öffentliche Auseinandersetzung mit der breiten und (teilweise) begeisterten Unterstützung der deutschen Bevölkerung für den Nationalsozialismus und mit der staatlich instrumentalisierten kommunistischen Heldenerzählung während den DDR-Zeiten ermöglichen würde, als Gesellschaft zu einem selbstkritischen und dezidierten Einstehen für Menschenrechte und Demokratie zu gelangen.

Der Band wird abgeschlossen mit Interventionen Knigges (Interviews und «Thüringer Erklärung») in aktuellen Auseinandersetzungen um Geschichtsrevisionismus, völkisches und nationalistisches Gedankengut und Verneinung von Menschenrechten vor allem seitens der AfD – auch gegen deren Versuche, das KZ Buchenwald zu instrumentalisieren, um ihre Ideologie dort zu zelebrieren. Volkhard Knigges klares Denken und überzeugtes Einstehen für die Menschenwürde und sein historisch begründeter Kampf gegen Demokratie- und Menschenrechtsgegner ist mit diesem Band gewürdigt worden. Die Auseinandersetzung mit den darin vereinigten Texten ist notwendig und überaus gewinnbringend.

Zitierweise:
Ziegler, Béatrice: Rezension zu: Knigge, Volkhard: Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts, hg. von Axel Dossmann im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Göttingen 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 394-396. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.